Zeitungsstapel vor hellem Hintergrund

Polnische Spuren in RheinMain


Kreis Bergstraße (kb). Mit über 5.000 Menschen, die hier leben, stellen Polinnen und Polen die zweitgrößte Migrantengruppe im Kreis Bergstraße dar. Berücksichtigt man die polnischen Einwanderinnen und Einwanderer, die bereits die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, ist diese Gruppe noch deutlich größer. Doch, anders als andere Einwanderergruppen, haben Polinnen und Polen kaum eine „ethnische Ökonomie“ herausgebildet, etwa mit Spezialitätengeschäften oder -Gastronomie. Auch eigene soziale, kulturelle oder sportliche Vereinigungen sind selten. Die Ausstellung „Lebenspfade“ des Deutschen Polen-Instituts begibt sich nun auf Spurensuche nach den „Unsichtbaren“ (wie der Direktor des Deutschen Polen-Instituts Peter Oliver Loew die Migrantinnen und Migranten aus Polen in dem Begleitbuch zur Ausstellung nennt) in RheinMain. Es ist ein Blick in die Geschichte: von der Polenbegeisterung im Vormärz und der Verfolgung polnischer Juden in der NS-Zeit, über vielfältige „Lebenspfade“ in Wissenschaft, Kultur und Sport sowie zur Frage nach Selbstverständnis und Tradition der heutigen Einwanderinnen, Einwanderer und ihrer Kinder. Die vom Deutschen Polen-Institut erarbeitete Wanderausstellung präsentiert in mehr als fünfzig Porträts ausgewählte Personen und ihre Biografien. Dokumente, Exponate und Interviewsequenzen lassen die Bedeutung der polnischen Einwanderung in RheinMain deutlich werden.

Der Freundschaftsverein Brücke-Most e.V. lädt in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Polen-Institut Darmstadt und dem Kreis Bergstraße am Donnerstag, 8. Dezember 2022, 18.30 Uhr zu der Ausstellungseröffnung „Lebenspfade. Polnische Spuren in RheinMain“ ein. Veranstaltungsort ist die Rhein-Main-Neckar-Galerie im Foyer des Neuen Landratsamtes (Graben 15, 64646 Heppenheim). 

Die Ausstellung wird von Donnerstag, den 8. Dezember 2022, bis Donnerstag, den 12. Januar 2023, im Neuen Landratsamt zu sehen sein. Öffnungszeiten: montags bis mittwochs 08:00 - 15:30 Uhr, donnerstags 08:00 - 18:00 Uhr und  freitags 08:00 - 12:00 Uhr.

 

Ergänzende Informationen: Polinnen und Polen in RheinMain. Der historische Hintergrund

(von Dr. Andrzej Kaluza, Deutsches Polen-Institut)

Die Region an Rhein und Main war im Gegensatz zum Ruhrgebiet oder Großstädten im Norden und Osten Deutschlands lange kein Anziehungspunkt für Menschen aus Polen. Zwar war Offenbach am Ende des 18. Jahrhunderts Zentrum der polnisch-jüdischen Sekte der Frankisten, allerdings nur für wenige Jahre. Kurorte wie Wiesbaden, Bad Homburg und später auch Bad Nauheim lockten Jahr für Jahr hunderte polnischer Gäste an, jedoch nur die betuchten. Seit Ende des 19. Jahrhunderts kamen vereinzelt polnische Landarbeiter in die Region. Schließlich lebten vor dem Ersten Weltkrieg in Frankfurt und Umgebung einige hundert aus Polen stammende Juden, die jedoch oft gar kein Polnisch sprachen. Die meisten von ihnen wurden 1938 bei der „Polenaktion“ aus Deutschland deportiert. 

Im Zweiten Weltkrieg gelangten zehntausende polnischer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in landwirtschaftliche Betriebe oder Fabriken der Gegend. In den Lagern, wie Kelsterbach oder Hirzenhain, herrschten erbärmliche Zustände. Anderthalbtausend Einwohner Warschaus wurden von den Deutschen im Herbst 1944 in das KZ „Katzbach“ in den Frankfurter Adlerwerken verschleppt, viele von ihnen starben durch die katastrophale Behandlung und bei „Todesmärschen“. Nach Kriegsende als „Displaced Persons“ bezeichnet, blieben hunderte von Polinnen und Polen in der Region.  

Der langsam zunehmende Strom von Aussiedlern aus Polen ließ die Zahl der Polnischsprachigen allmählich ansteigen: Sie erhielten zwar die deutsche Staatsangehörigkeit, viele sprachen aber gerade in den 1980er Jahren gar kein Deutsch mehr und empfanden sich oft als Polen. Dazu kamen die politischen Flüchtlinge – nach einer ersten, kleinen Zuwanderung 1968 waren es nach Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 mehrere tausend. Sie gründeten Vereine und Zeitschriften. Gleichzeitig nahm das Interesse an Polen in Deutschland zu: Städtepartnerschaften, die Unterstützung für die Gewerkschaft „Solidarność“, das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt, die Frankfurter Buchmesse zeugen teils bis heute davon. 

Seit 1991 benötigten Polinnen und Polen kein Visum mehr, um nach Deutschland zu gelangen. Saisonarbeiter auf dem Bau oder in der Landwirtschaft und Pflegekräfte, aber zunehmend auch akademisch gebildete Menschen oder Kreative fanden ihren Weg in die Region. Seit der völligen Öffnung des Arbeitsmarktes für polnische Staatsbürger 2011 hat sich deren Zahl verdoppelt. Die Zahl von deutschen Staatsbürgern mit polnischem Migrationshintergrund liegt ebenfalls hoch. Allein in der Stadt Frankfurt gab es 2017 mehr als 30.000 Menschen mit polnischem Pass oder polnischem Migrationshintergrund.

Polinnen und Polen in der Region können heute auf eine eigene Infrastruktur zurückgreifen: Vielerorts haben polnischstämmige Kinder die Gelegenheit zum Polnisch-Unterricht und zahlreiche polnische katholische Gemeinden kümmern sich um die Seelsorge. Es gibt polnische Geschäfte und Kulturvereine, polnischsprachige Rechtsanwälte und Ärztinnen, polnische Diskotheken und Konzerte, sogar einen polnischen Fußballverein.

Lfd. Nr. 365 / 2022